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Nachkommen blieb. Durch die Fassung, der Vater solle von dem Sohne getödtet werden,
wird das Ganze in eine schiefe Bahn gelenkt.
Im Bereiche des Christenthums ist für einen Fluch wie den des Pelops und seine Er
füllung kein Raum. Schon der Fluch an sich ist unchristlich; wie könnte nun die Gottheit
sich in den Dienst eines solchen stellen? eines Fluches zumal, durch welchen der Sohn des
Frevlers zu schweren, naturwidrigen Thaten verdammt wird?
Aber auch das Schicksal desMenschen wird nicht im Voraus so bestimmt, dass es als ein von
den Vätern vererbtes unabwendlich feststände. Das lehrt die heilige Schrift nirgend. Man be
rufe sich nicht auf den Gott, „der die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern bis ins dritte
und vierte Glied“.*) Die betreffende Stelle (2. Mos. 20, 5 — 6) lautet in wörtlicher Uebersetzung:
„Denn ich, Jehova, dein Gott, bin ein eifriger Gott (eig. eifersüchtiger Gott, der seine Rechte nicht
kränken lässt), die Missethat der Väter heimsuchend (strafend) an den Kindern, an Nachkommen
des dritten und vierten Gliedes der mich Hassenden; aber Gnade erweisend in tausende denen,
die mich lieben und meine Gebote halten“. Hierin liegt zunächst weiter nichts als die unleugbare
Thatsache, welche schon die alltägliche Erfahrung des gewöhnlichen Lebens lehrt, dass die
Kinder die Folgen der elterlichen Sünden mitzutragen und darunter zu leiden haben. Dass
dies immer und unter allen Umständen geschehe, kann allerdings nicht behauptet werden, das
liegt aber auch nicht in den obigen Worten. Dann jedoch ist auch der Gegensatz nicht ausser
Acht zu lassen: „Gnade erweisend in (auf) tausende“ d. i. tausende von Geschlechtern (Gliedern,
s. die Parallelstelle 2. Mos. 34,7: „in (auf) die tausende“, Luther „in tausend Glied“). Est ist
demnach die Gnade und der Segen unendlich viel grösser, als die Strafe und der Fluch, und
Gott offenbart sich hier wiederum als der „Vater voller Lieb’ und Huld“, wie er auch schon
im alten Testamente wenigstens in den Höhenpunkten der Offenbarung erscheint.
Dem entsprechend ist in der mittelalterlichen Legende, die sich von vorn herein auf
christlichen Boden stellt, von Flüchen, von Orakelsprüchen, welche auch in der letzten Fassung
der hinsterbenden griechischen Sage (s. S. 6) nicht ganz verklungen sind, überhaupt von
einem schon im Voraus festgestellten Schicksal nicht die Rede. Alles dies hat die Sage ab
gestreift, das stählerne Netz ist gesprengt, die Bahn ist frei. Der Mensch kann sich nach eigner
Wahl für gut oder böse entscheiden.
Das ist ein ausserordentlicher Vortheil, den die Gregoriuslegende vor der Oedipussage
voraus hat Sie ist damit erst auf gesunden Boden gestellt, während die antike Sago unter der
Last des Fatalismus zu keinem gedeihlichen Leben kommen kann. Sehen wir nun, ob die Le
gende, namentlich der letzte, gediegenste Bearbeiter derselben, Hartmann von Aue, diesen
Vortheil auch recht auszunutzen weiss. Wir wollen zu dem Ende dem Gregorius Schritt für
Schritt auf seiner Lebensbahn folgen, indem wir jedoch Oedipus nicht ganz aus dem Auge
verlieren; denn wenngleich beide Sagen, wie wir gesehen, in diesem einen Hauptpunkte aus
einandergehen, so werden sich trotzdem in ihrer weiteren Entwickelung Vergleichungspunkte
und Uebereinstimmungen noch häufig genug finden.
[Die Vorgeschichte.] Die Eltern des Gregorius haben Vater und Mutter schon sehr
früh verloren; so wachsen sie in unbewachter Jugend heran. Denn die Räthe, denen der ster-
bende König seine Kinder empfohlen, haben sich doch nicht in das häusliche Leben ihres ju
gendlichen Regenten einmischen und zwischen die Geschwister drängen können. Somit ist die
') So Gottschall in seinem geistvollen Werke : „Die deutsche Nationallitteratur im 19. Jahrhundert“ Bd. I. S. 101.