Full text: Gregorius auf dem Steine, der mittelalterliche Oedipus

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Möglichkeit der nun eintretenden schweren Verirrung doch einigermassen durch die äussern 
Verhältnisse erklärt und begründet. Diese Lage der Dinge benutzt der „unreine Feind“, dessen 
Gewohnheit es ist, Freude und Ehre zu stören und in Leid zu wandeln (V. 140 ff.). Der Teufel also 
verführt zuerst den Bruder, indem er dabei die Macht der Liebe, der Schwester Schönheit und 
des Jünglings Unerfahrenheit als Waffen gebraucht. Von dem Bruder wird dann die Schwester 
zu der Sünde gezwungen. 
So hat denn der junge Fürst eine Todsünde auf sich geladen, Für die er vollkommen 
verantwortlich ist. Er besass Freiheit des Handelns; ob die Macht des Teufels auch gross 
erscheine, so gross, dass der Dichter in naiver Weise an Gott deshalb eine vorwurfsvolle 
Klage richtet: so ist sie doch keine zwingende, der Mensch kann und soll ihr widerstehen, 
denn: „Widerstehet dem Teufel, so flieht er von euch“ (Jac. 4,6 vgl. auch Eph. 6,11). 
Viel weniger tritt die Schuld der Schwester hervor; allein wenn Barthel, wie es scheint, 
sie für ganz schuldlos hält*), so übersieht er, dass ausdrücklich bemerkt wird, beiden, also 
auch der Schwester, sei die Sünde lieb geworden und sie hätten darin beharrt (..daz in mit 
den sünden lieben begunde V. 230 ff.). 
Zur Sühne seiner Schuld entschliesst sich der junge Fürst, eine, Fahrt nach dem h. 
Lande zu unternehmen.**) Doch sobald die Schwester von ihm geschieden ist, beginnt er hin 
zusiechen (des twnnc in der Minnen bant) und stirbt an gebrochenem Herzen. 
So stirbt zwar auch hier der Vater des Helden infolge der selbstverschuldeten, unseligen 
Verwickelung; aber der Vatermord fällt weg, wofür ein echt romantisches Moment als Todes 
ursache eintritt. 
Wenn dies eine Milderung von etwas zweifelhaftem Werthe ist, so ist um so erfreu 
licher der lichte Gegensatz zur Antike, der sich bei der Aussetzung des Kindes kund gibt. 
[Die Aussetzung.] Laius und Iokaste setzen ihr Kind auf dem rauhen Waldgebirge 
aus, damit es umkomme, entweder von wilden Thieren gefressen werde oder elend verschmachte. 
Ja es werden die Knöchel des Kindes durchbohrt, um eine etwanige Aufnahme von Seiten 
Fremder möglichst zu hintertreiben. Genug, die Aussetzung geschieht in der grausamsten 
Weise, und dass trotzdem das Kind gerettet wird, ist durchaus gegen den Willen der Eltern. 
Dabei ist zu beachten, dass das Aussetzen von Neugeborenen, insbesondere von Töchtern, 
eine sehr allgemeine Sitte war, die selbst ein Plato in seiner Musterrepublik gestattet (Rep. 
V. S. 461 c.) — ein Misbrauch des Elternrechtes oder genauer der väterlichen Gewalt, welcher 
seine Wurzel in der Vorstellung hat, als sei das Kind eine der Willkür des Vaters anheim 
gestellte Sache und habe vor der förmlichen Anerkennung kein auf sich selbst beruhendes 
Menschenrecht. 
Eine solche mangelhafte Auffassung der elterlichen Pflichten, die sich auch noch nach 
anderen Seiten hin zeigt, hat natürlich auf christlichem Boden keine Stätte. Wird dennoch hier 
das Kind des Geschwisterpaares im Drange der Noth ausgesetzt, so geschieht es nicht, um es 
zu tödten, sondern nur, um die Schande zu hehlen (V. 513. 566); sodann wird Alles gethan, 
das Kind, wenn irgend möglich, am Leben zu erhalten und für sein Fortkommen in der Welt 
zu sorgen.***) 
*) K. Barthel, Leben und Dichten Hartmann’s von Aue S. 42. 
**) Woher Barthel entnimmt, dass er eine solche Fahrt nur „vorgegeben“ und nur „zum Scheine“ 
verreist sei, ist nicht recht zu erkennen. Vielmehr heisst es V. 663—64: „und muose bellben sin vart, der er 
durch got enein tourt“. 
***) Die Art der Aussetzung, auf dem Wasser, in einem sorgfältig verwahrten Kästchen, erinnert aller-
	        
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