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ez waere benennen daz selbe gewallt,
ode daz si von einer haut
geworlit waeren beide,
ditz' ermant si ir leide.
Dass sie da nicht weiter nachforscht, ja dass von diesem auffallenden Umstande nachher mit
keinem Worte mehr die Rede ist, das ist kaum zu begreifen. Und wenn der Dichter es etwa
so hat darstellen wollen, als habe sie sich ohne Weiteres mit der Annahme beruhigt, beide
Zeuge würden von derselben Hand gewirkt sein, so wäre es immer noch ein bodenloser Leicht
sinn, der wieder zu dem Ernst ihrer Busse und ihrom sonst gar nicht als leichtsinnig geschilderten
Charakter sehr wenig stimmt. Aber lesen wir drei Zeilen weiter! Dort heisst es, auch habe
ihr der Fremdling mehr als irgend jemand behagt:
daz machten sine raete (dessen böse Anschläge),
der auch froun Even verriet-,
daz si von gotes geböte scliiet (V. 1788 ff.) — 9
d. h. mit einem Worte: der Teufel. Ist es des Dichters Meinung, durch diesen Einfluss die
Verblendung und Vergessenheit der Herzogin zu erklären — und V. 2322 ff. 2430 f. bestätigen
dies — so heisst das doch, sich die Sache sehr leicht machen. Man brauchte dann bei jeder
psychologischen Unbegreiflichkeit und mit dem Charakter einer Person nicht stimmenden Ver
irrung nur zu sagen: der böse Feind war schuld daran. Und die Herzogin ist in ihrer Wahl
vollkommen frei (V. 2060), während über die Hand der Iokaste im Voraus von Kreon ver
fügt war.
[Der Sturz.] So hat denn Gregorius, indem er, der Findling, Herzog geworden, ein
scheinbar beneidenswerthes Glück errungen. Aber dieses Glück beruht nicht auf fester, ge
sunder Grundlage, es baut sich über einem Abgrund auf; sobald die Verwandtschaft der Gatten
entdeckt wird, öffnet sich dieser Abgrund, in welchen die namenlos Unglücklichen stürzen.
Gregorius regiert, gleich Oedipus, als ein trefflicher Herrscher und in ungetrübtem
Glück. Nur die Tafel, die er täglich insgeheim list, erfüllt ihn mit immer erneutem Schmerze;
täglich bittet er Gott um Huld für seine Eltern und erkennt dabei nicht die eigene Sünde, in
der er fort und fort mit seiner Mutter lebt, Gott damit betrübend. Doch erwachsen aus dieser
Ehe wenigstens keine Kinder; auch konnte bei dem Vorhandensein der Tafel und der täglichen
Bussübung Grcgor’s die Unnatürlichkeit des Ehebundes nicht allzu lange verborgen bleiben.*)
*) Bei Oedipus schlummert das Unheil viel länger. Es muss ja erst noch der dritte Theil jener Weis
sagung („ein verabscheuenswertlies Geschlecht zu erzeugen“) in Erfüllung gehen. Dass aber 0, in dieser Zwischen
zeit „im Schosse der Sicherheit eingewiegt gelegen“ und der Vergangenheit mit ihren drohenden Orakeln gar nicht
gedacht habe (Kock), ist wenigstens nach Sophokles Darstellung im K. Oedipus nicht begründet; vielmehr hat die
geheime Sorge, es möge doch noch das Orakel in Erfüllung gehen; ihn nicht verlassen — man sehe die Scene mit
dem Boten, namentlich auch V. 1010: TOUT OCWO — [J. SI (J0CSI Cpoßsi.
Die Aufdeckung der ganzen schrecklichen Wahrheit, wonach dasjenige, dessen Eintreffen Oedipus immer
noch fürchtet, längst erfüllt ist — das stellt der „König Oedipus“ des Sophokles dar. In dieser Tragödie handelt
es sich demnach weniger um die That selbst, die ja längst geschehen und abgeschlossen ist und nur den dunkeln
Hintergrund bildet, als um das Erkennen derselben. Hier ist Oedipus — falls man nicht mit Bernhardy (Grundriss
der Litteraturgesch. 2. Aufl.) auch hier eine 'äsoßXaßsiOC annehmen will—in seinem Handeln frei; indem er aber
von Ungeduld und Leidenschaft sich fortreissen lässt, verliert er die sichere Haltung sowie den klaren Blick und
wird ungerecht gegen Tiresias und Kreon. Freilich ist diese leidenschaftliche Erregtheit, abgesehen von einem
etwas zu grossen Selbstvertrauen, durch die edelsten Beweggründe motivirt, vor Allem durch sein lebhaftes Gefühl
für die Noth des Volkes und durch die Liebe zu demselben; auch ist das Auftreten des Tiresias derartig, dass