Full text: Gregorius auf dem Steine, der mittelalterliche Oedipus

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[Die Busse.] Als nun die Wahrheit ans Licht gekommen ist, da werden beide zuerst 
von Leid und Jammer übermannt: die Herzogin, die sich mit Recht Vorwürfe macht, weil sie 
nicht früher nach Gregor’s Herkunft gefragt hat (V. 2400 ff.), schlägt sich die Brust und rauft 
ihr schönes Haar, sie meint, zum Unsal und zur Hölle geboren zu sein, und auch Gregorius 
klagt anfänglich Gott an, dass er ihn in ganz anderer Weise, als er es von ihm erbeten, mit 
seiner Mutter vereinigt habe.*) Doch bald fasst er sich wieder und verweist der Mutter ihre 
Verzweiflung: wer die wahre Reue habe, dessen Seele könne auch von der grössten Missethat 
„genesen“. Demnach räth er ihr, im Lande zu bleiben, doch die Einkünfte desselben mit den 
Armen zu thcilen, sich Ruhe und Lust zu versagen, reichausgestattete Klöster zu stiften. Auch 
er will sich ganz der Busse weihen, der Welt absagend, damit es ihnen so gelinge, sich in 
Gottes Reiche wieder zu vereinen. Wie Oedipus als Bettler sein Land verlässt, so scheidet 
auch Gregorius in dürftigem Gewände von Mutter und Reich, ln eine Wüste wünscht er ge 
führt zu werden, um dort bis an seinen Tod zu büssen. Barfuss durchstreift er Wald und 
Bruch, ohne Speise, in stetem Gebet. Am dritten Tage gelangt er zu der Fischerhütte. Die 
harte Behandlung und die Schmähworte des Fischers erduldet er mit Sanftmuth, ja er freut 
sich der Unbilden, und hätte der Rohe ihn geschlagen, so hätte er das noch lieber gesehen, in 
der Hoffnung, dass seiner Sünden Last dadurch verringert werde. Die gute Kost, welche die 
mitleidige Fischerfrau ihm vorsetzt, schlägt er aus und nimmt nur eine Rinde von Haferbrot 
und einen Trunk Wasser an, weil sein sündiger Leib der Speise kaum werth sei. Er wünscht 
einen wilden Fels oder eine Höhle und greift deshalb begierig des Fischers Vorschlag auf, ihn 
auf einen einsamen Felsen im Meer zu bringen und ihm obenein mit einer Eisenfesscl die 
Beine zu schliessen, damit er nie von dort entkommen könne, wenn ihn später etwa sein Ent 
schluss reue. Auf diesem kahlen Felsen bringt er in der vorhin (S. 4) geschilderten 
Weise 17 Jahre zu. 
Machen wir hier einstweilen Halt! Zunächst ist im Gegensatz zu Oedipus festzustellen, 
dass hier wenigstens keine That der Verzweiflung stattfindet. Während dort Iokaste sich er- 
selbst ein Sanftmüthiger darob in Harnisch gerathen könnte. Aber von einem Herrscher, der würdig sein will, die Ge 
schicke Vieler zu leiten, muss man auch in dieser Hinsicht mehr als von gewöhnlichen Menschenkindern, ein 
grösseres Mass von Besonnenheit und Ruhe verlangen können. Kurz, Oedipus verfällt trotz der Güte seines Charakters 
in Schuld, wie dies Kock in seinen vorhin erwähnten Schriften, wenn auch nicht ohne mannigfache Uebertreibungen, 
nachgewiesen hat, und die Enthüllung der früheren Thaten bricht um so schrecklicher über ihn herein. 
Wenn man nun unter einer „Schicksalstragödie“ eine solche Tragödie versteht, in welcher es sich um 
das Verüben der verhängten That selber handelt und der vergebliche Kampf gegen das Geschick vorgeführt wird, 
so ist allerdings König Oedipus keine Sehicksalstragödie. Hier dreht sich Alles ja, wie wir gesehen haben, um 
das Erkennen der That und die damit für den Thäter eintretenden Folgen. Aber man beachte, dass letztere doch 
wesentlich eben durch die Schicksaisthat bedingt sind und Oedipus sich ihnen nicht entziehen kann. Eine Befleckung 
(p.t(X(jp.(x) des Landes war er immer, auch wenn er seine unfreiwilligen Vergehen gegen die Eltern früher erkannte. 
Genug, wir kommen aus den magischen Kreisen des Fatalismus nicht heraus, und „König Oedipus“ ist — in diesem 
abgeleiteten Sinne — eine Schicksalstragödie. Ganz ähnlich ist es, um ein Drama der neueren deutschen Litteratur 
zur Vergleichung heranzuziehen, mit der „Schuld“ von Müllner; auch hier handelt es sich nicht um die That selbst, 
den Brudermord, der längst geschehen ist und nur den düstern Hintergrund bilden hilft, sondern um die Enthüllung 
dieser That und die Folgen dieser Enthüllung. Und doch figurirt die „Schuld“, in welcher freilich noch ein gut 
Theil Schicksalsspuk hinzukommt, in der deutschen Litteratur in der Reihe der Schicksalsdramen. 
*) Diese Aeusserungen im ersten leidenschaftlichen Schmerze sind hier ebenso wenig massgebend, als bei 
Oedipus nach Aufdeckung seiner Thaten (K. Oedipus Schluss), wo ihm nur die Thaten selbst vorschweben, nicht 
die Art, wie er darein verwickelt worden ist. 
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