Full text: Gregorius auf dem Steine, der mittelalterliche Oedipus

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bängt und Oedipus sich die Augen aussticht, wehrt Gregorius der Verzweiflung seiner 
Mutter durch den Hinweis auf die wahre Reue, die vor Gott als Busse für alle Missethat gelte: 
ja hän ich einen tröst gelesen, 
daz got die wären riuwe hat 
Ze bnoze über alle missetät. 
iwer sele ist nie sö ungesunl, 
wirt iu daz ouge ze keiner stunt 
von herzelicher riuwe naz, 
ir sit genesen — geloubet. daz (V. 2528—34). 
(Vgl. auch V. 3439 ff.: nu ist niemens sünde also gröz, des gewall die helle entslöz, des genäde 
ensin noch merre). 
Es ist dies der echt biblische und christliche Trost, der aus den Reuethränen des Petrus 
widerstrahlt und aus dem verklärten Blick des sterbenden Schächers am Kreuze — der Trost, 
auf den auch in den Sprüchen des mit Hartmann ziemlich gleichzeitigen „Freidank“ mehrfach 
hingewiesen wird: 
swie gröz si iemens missetät, 
got dannoch groezer gnade hat u. a. 
S. auch Luthers: „Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnaden.*) 
Um so unangenehmer berührt es, wenn diese echt christliche Lehre sofort durch die 
Zuthat der Verdienstlichkeit besonderer guter Werke, die mit der begangenen Sünde meist in 
gar keinem inneren Zusammenhänge stehen, getrübt und verfälscht wird, als da sind: Kasteien, 
Almosen geben, Klöster stiften, Wallfahrten (bei Gregor’s Vater V. 400) u. s. w. Dergleichen 
räth Gregorius seiner Mutter und danach verfährt er selbst. Deshalb freut er sich der harten 
Behandlung des BJschers, deshalb hauptsächlich zieht er sich auf den Fels im Meer zurück, 
wo er zu dem Seelenleide alles leibliche Ungemach (V. 2790) erduldet. 
Wo finden wir solche Lehre in der h. Schrift? wo in ihr ein solches Beispiel? Von dem 
verlorenen Sohne, der doch wahrlich schwer gesündigt hat, wird dergleichen nicht verlangt, 
sondern als er reuevoll zum Vater zurückkehrt, wird er sofort wieder angenommen, und von 
jenem Zöllner in dem Gleichnis, der im Tempel Gott seine Schuld bekannte, heisst es, dass er ge 
rechtfertigt in sein Haus hinabgegangen. Oder zieht sich etwa Petrus nach seinem tiefen 
Falle, der Verleugnung seines Herrn und Meisters, auf Jahre von allem menschlichen Verkehr 
zurück, um so seine Sünde zu sühnen? Wer hätte von solcher Vereinsamung und Selbstquälerei 
irgend Nutzen gehabt? Nein, nachdem er seine Sünde mit bittern Thränen bereut und seine 
Liebe zu dem Herrn von Neuem bekannt hat, der ihn sofort wieder in Gnaden annimmt, wirkt 
er frisch und freudig in seinem Berufe.**) 
[Die Erhöhung.] Nun aber kommt noch eines dazu: w'ährend doch das lebendige 
Wirken unter den Brüdern höher stehen sollte, wird gerade dieses langjährige Verweilen auf 
dem Fels in Unthätigkeit und Selbstquälerei als besonders verdienstvoll hingestellt; Gregorius 
*) Im Glauben des griechischen Alterthums ist gewiss und unverbrüchlich nur das Gesetz der Vergeltung 
(5pa0OCVTl Tra^slv ); ein von Zeus gewährleistetes Gesetz der Gnade gibt es nicht, es gibt keine Bedingungen, an deren 
Erfüllung eine Verheissung allgemeiner Gnade geknüpft wäre. Diese Verheissung, d. i. die Möglichkeit einer für alle Sünden, 
für alle Sünder vorhandenen Versöhnung hat erst Christus in die Welt gebracht (Nägelsbach, Kachhom. Theol. S. 362). 
**) Uhland, im „Herzog Ernst von Schwaben“ Akt 3, stellt sehr schön diese beiden Arten des Thuns, 
das selbstquälerische, unfruchtbare des Büssers und das fruchtreiche des lebendigen Wirkens unter den Menschen 
gegenüber in dem Ritter Adalbert und der Kaiserin Gisela; man sehe dort namentlich die Worte der Kaiserin:
	        
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