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tilgt dadurch nicht bloss seine Sünde, sondern erwirbt sich durch so ausserordentliches Marter
thum auch bei Gott ein ausserordentliches Verdienst und wird ein heilige r Mann, der höchsten
Stelle in der damaligen Christenheit werth. Als ,,sündelösen, reinen, seidigen man“, den
Wunder auf Schritt und Tritt begleiten, führen ihn die beiden Abgesandten nach Rom, dass
er dort den päpstlichen Stuhl einnehme. Und so sehr sein Leib auf dem Fels gelitten hat, so
ist doch, wie der Dichter wohlweislich hervorhebt, sein Geist ungeschwächt geblieben, indem
ihm nichts von seinem früheren Können und Wissen („von rvorten und von buocken“ d. i.
von Redefertigkeit und Gelehrsamkeit) verloren gegangen ist.*) So bewährt er sich auch in seinem
neuen Amte, so dass man bekennen musste, nie sei ein besserer Papst erwählt worden, und
dass durch ihn Gottes Ehre gar mächtig im römischen Reich erwuchs.
Auffallend ist die Häufung der Wunder am Schluss, unter denen einige sich befinden,
welche streng genommen unnöthig sind, namentlich das Wiederfinden der Tafel, die doch ihren
Zweck längst erfüllt und deren Gregorius während der ganzen auf dem Felsen zugebrachten
Zeit ohne Schaden entbehrt hatte, ferner die Selbsterneuerung der Speise in den Gefässen der
beiden Reisebegleiter (im Anklang an die Speisung der Witwe zu Zarpath 1. Kön. 17,16).
Offenbar soll durch diese Häufung Gregorius so recht als ein heiliger Mann und Auserwählter
Gottes bezeichnet und verherrlicht werden.
Uebrigens greift auch in Oedipus Schicksal zuletzt das Wunder mehrfach ein: Oedipus
wird durch wiederholte Donnerschläge und des Gottes Ruf an sein Ende gemahnt, er findet
den Weg zu seinem Grabesraume von selbst, ohne Führer, einem Sehenden gleich, (Oed. auf
Kol. V. 1549—50, 1588 ff.), und wird endlich wunderbar von der Erde hinweggenommen
(V. 1665: si' Ti£ ßpot«v, S'aup.aaTOij). Und wie Gregorius zum Heiligen aufrückt, so steigt auch
Oedipus eine Stufe über die gewöhnliche Menschennatur empor: er wird ein Heros, dessen
Grabhügel gegen die feindlichen Nachbarstädte, besonders gegen Theben, eine Schutzwehr
Athens bildet, „besser als der Schilde viel“ (V. 1524 ff. 1533 ff).**)
„Du aber, der du strafend vor mich trittst,
Was thatest du, das dich berechtigte,
Mich zu vernichten, sprich, was thatest du?
Den Stein hast du gehöhlt mit deinen Knien,
Am Pflug hast du gezogen statt des Stiers,
Dich selbst hast du zerfleischet, ob dir gleich
Der, den dein Speer gefällt, so schön verzieh:
Dein Wort ist todt, unfruchtbar all dein Thun u, s. w.
*) „Durch des h, Geistes Hülfe“ (V. 3299 ff.)* Es ist dies eben so gut ein Wunder, wie die Erhaltung
des Leibes; denn unmöglich kann jemand 17 Jahre unter den geschilderten Umständen auf einem kahlen Felsen zubringen,
ohne am Geiste mindestens Einbusse zu erleiden. Die Erfahrung hat ja auch gelehrt, dass Leute, die längere Zeit
allein auf einer Insel zubrachten, geistig zurückgingen, namentlich die Sprache mehr und mehr verlernten. Man
denke an die wirklichen Robinsonaden — auch an die Schilderung in Tennyson's „Enoch Arden“:
„Von seiner Bergschlucht niederwärts
Schritt da mit langem Haar und Bart der Klausner,
Gebräunt, kaum menschenähnlich, fremd gekleidet,
Murmelnd und stammelnd, wie Verrückte tliun
In undeutbarer Gier, und Zeichen machend,
Niemand verstand’s — —
**) Weiteres ist nicht gesagt; namentlich findet sich von einem für Oedipus zu hoffenden seligen Jenseits
in dem Stücke keine Andeutung, während eine solche Hoffnung nirgend eher zu erwarten wäre als gerade hier.
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