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Dass bei der Sühnung der Schuld zu der herzlichen Reue in der Regel noch be
sondere gute Werke hinzutreten, um Gottes Zorn zu besänftigen und sein Erbarmen zu ge
winnen, ist früher schon zur Genüge hervorgehoben. Doch bleibt die Verheissung bestehen,
dass in aufrichtiger Reue und Busse auch für die grösste Schuld noch Vergebung gefunden
werden könne, ja dies ist eben der Satz, den Hartmann an Gregorius und seinen Eltern er
weisen will, den er zum Schluss als die Moral des Ganzen hinstellt:
da sol der sündige man
ein saelic bilde nemen an,
swie vil er gesundet hat,
daz sin doch wirt guot rät,
ob er die riuwe beget
und relite ze buoze stet (V. 3811—16).
Dabei vergisst Hartmann jedoch nicht davor zu warnen, dass jemand etwa im Hinblick auf diesen
grossen Sünder, der doch Gnade gefunden, muthwillig sich dem Sündigen ergebe.
So leuchtet denn durch das trübe Gewölk menschlicher Schwäche und teuflischer Ein
flüsse schliesslich doch die Sonne der göttlichen Gnade und Güte siegend hindurch.
Von Oedipus kann man Aehnliches nicht sagen. Ihm als dem Gliede eines verhassten
Geschlechtes (Oed. auf K. 960 ff.) steht die Gottheit kalt und feindlich gegenüber, sie treibt
den Unglücklichen in Schuld und Verderben und überlässt ihn dann der Pein. Erst spät wendet
sie ihm ihre Huld zu, aber nur zur Ausgleichung für so schweres, in der Hauptsache unver
dientes Leid: ihm wird der Ort bezeichnet, wo der müde Greis eine Ruhestätte finden soll-
Doch in der Art, wie ihm dies gewährt wird, bewahrt die Gottheit bis zuletzt ihr ernstes,
düster-erhabenes Angesicht: durch wiederholte Donnerschläge wird dem Oedipus verkündet,
dass nun sein Ende nahe, und kaum wird ihm Zeit gelassen, von seinen Töchtern und von
Theseus sich zu verabschieden. Des Gottes Stimme, die alle Zeugen des Vorgangs mit Grausen
erfüllt, treibt ihn zur Eile an, um den letzten Weg zu wandeln.
So können wir, wie überhaupt in der religiösen Anschauung des griechischen Alter
thums, so auch hier höchstens die Gerechtigkeit der Gottheit erkennen, keineswegs aber die
volle, wahrhafte göttliche Liebe.
Diese ist jedoch in Gregor’s Lebensgange deutlich sichtbar, sie begleitet den „guoten
siindaere“ von dem ersten bis zum letzten Schritte seines Lebens.
Schon dass das Kind mit solcher Schönheit ausgestattet ist (daz nie zer wcrlte quaeme
ein killt also genaeme), soll in des Dichters Sinne, der nicht müde wird diese Schönheit her
vorzuheben, doch wohl ein Beweis dafür sein, dass Gott, des Kindes Schöpfer und Bildner, ihm
wegen der schweren Sünde, aus der es hervorgegangen, nicht seine Huld entzogen hat, dass
es die elterliche Schuld nicht mitzutragen hat — wie ja auch die Mutter sagt:
auch ist uns dicke vor geseit,
daz ein kint niene treit
sines vater schulde.*)
*) Vgl. unter Anderm Hesekiel 18,20. — Dazu stimmt allerdings nicht V. 1608 ff., wo Gregorius, sobald er
die vom Abte eingehändigte Tafel gelesen, in die Worte ausbricht: „ich bin vervallen verre an alle ndne
schulde; wie sol ich gotes liulde gewinnen nach der misse tat, diu hie vor mir geschritten stät? Dieser
Widerspruch fällt wohl dem Dichter und seiner mangelhaften Technik zur Last, In der Ausführung des Gedichtes
selber herrscht die oben von der Mutter ausgesprochene Anschauung,