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Gregorius auf dem Steine,
der mittelalterliche Oedipus.
öie beiden grossen Geschlechtssagen des griechischen Heroenalters, welche die Schaffenskraft
der attischen Tragiker vorzugsweise angeregt haben, die Pelopiden- und die Labdaciden-
Sage, gewinnen für uns abgesehen von jenen Meisterwerken des Alterthums ein besonderes
Interesse noch dadurch, dass sie in der mittelalterlichen Sage, auf dem Boden der germanischen
Welt bemerkenswerthe Gegenstücke haben. Dies ist für die erstere, namentlich insoweit Orestes
•len Mittelpunkt bildet, die Märe von dem dänischen Prinzen Amleth, welche von Saxo Gram-
matikus überliefert, schliesslich durch den grossen Briten jene wunderbar tiefsinnige Darstellung
gefunden hat.*) Nicht minder hat die Labdacidensage,'vorzüglich ihr Idauptheld Oedipus, ein
Gegenbild in einer Gestalt des Mittelalters, in Gregorius auf dem Steine. Die Aelmlichkeit
beider ist so hervortretend, dass sie sich wohl jedem Leser der Legende von Gregorius auf
drängen wird; auch ist von den Literarhistorikern (Koberstein, Kurz u. A.) mehrfach darauf
hingewiesen worden. Aber eine eingehende Vergleichung, verbunden mit genauerer Zerglie-
deruug der Gregoriuslegende, hat meines Wissens noch niemand unternommen. Und doch
dürfte eine solche ein besonderes Interesse gewähren, wenn anders es ein Interesse hat,
die Entwickelung eines wesentlich gleichen Stoffes auf zwei so verschiedenen Gebieten, wie das
griechische Alterthum und das christliche Mittelalter sind, zu verfolgen. Die sittlichen und
religiösen Anschauungen dieser beiden Zeitalter werden dabei in gegenseitiger Beleuchtung um
so schärfer hervortreten. Gleichzeitig wird auch der Werth beider Sagen näher festgestcllt
werden können, namentlich derjenige der Gregoriuslegende, über welche die Urtheile ja so
sehr auseinandergehen.**)
Um dieser Vergleichung einen festeren Boden zu schaffen und den Leser vorläufig zu
Orientiren, möge hier zunächst eine Gegenüberstellung beider Sagen nach ihren thatsächlichen,
Momenten folgen.
Bei der Sage von Oedipus wird es genügen, in der Kürze an die Grundzüge der
selben zu erinnern.
*) Eine Vergleichung beider, insbesondere des sophokleischen Orestes und des shakespearischen Hamlet
habe ich in dem Oster-Programm des Treptower Bugenhagianums von 1857 versucht.
**) Leider war es dem Verfasser, der erst nach Mich. 1876 die Arbeit übernahm, nicht mehr möglich, sich
das Material zu derselben in dem gewünschten Umfange zu verschaffen. Mängel der Arbeit möge man hiermit und
überhaupt mit der Kürze der verstatteten Zeit entschuldigen.