588 VI. Buch. Geschichtliche Rechtsphilosophie.
kann nun der geschichtlichen Schule ihrer Aufgabe nach nicht
zum Tadel gereichen, das; sie kein ausgesprochenes philosophisches
Bekenntniß hat, und daß die philosophische Lehre, die sie in
der That vertritt, sich nur auf die Entstehungsweise, nicht auf
den Inhalt des Rechts bezieht. Das aber ist ein wirklicher
Mangel ihres Standpunktes, daß sie in Folge dessen nur die
eine Seite des Rechts hervorhebt, wie es Erzeugniß des
Volksbewußtseyns ist, und nicht in gleichem Maaße seine an
dere Seite, wie es eine höhere Macht, das Ethos über dem
Volk unb Volksbewußtseyn ist, von der dieses aufgefordert, an
der es gemessen und gerichtet wird, und daß sie deßhalb in
dem Juristenstand und in dem Gesetzgeber nur Organe und
Repräsentanten des Volksbewnßtseyns, nicht Organe und Re
präsentanten des Rechts als solchen, dieser selbstständigen hö-
hern Macht erblickt"). Hieraus entspringt auch vielleicht jene
zwar nicht grundsätzliche, aber doch thatsächliche Hinneigung für
gewohnheitsmäßiges Wachsthum des Rechts im Gegensatze
berechneter energischer Anordnung.
Wie die historische Schule kein materielles rechtsphilo
sophisches Princip hat, so hat sie auch kein politisches System.
Aber einen politischen Charakter hat sie dessenungeachtet. Vor
Allem ist eben ihre Grnndlehre über die Entstehung des Rechts
von der größten politischen Bedeutsamkeit: jene Ehrfurcht vor
dem Bestehenden, jene Bescheidung, daß jede Generation nur
an der Entwickelung, die durch alle Zeiten geht, ihr Theil
beizutragen, keine den Bau des menschlichen Gemeinwesens im
Ganzen und neu aufzuführen habe. Sie tritt damit in den
entschiedensten Gegensatz gegen die Revolution, nicht minder als
die eigentlichen Schriftsteller der Kontrerevolution. Sie ist *)
*) S. dieses Werk« II. Band II. Buch §. 20 u. 22.