Die sozialdemokratischen Parteien der europäischen Län
der stehen vor einem entscheidenden Problem. Wird es ge
lingen, sich als politische Partei mit den Mitteln demokrati
scher Politik für bestimmte Gegenwartsforderungen einzu
setzen und dabei eine, durch ihren Zukunftsglauben festver
wachsene Kämpferschar zu bleiben? Wird es gelingen, sich in
das Auf und Ab des täglichen Kampfes zu stellen und dennoch
in den Anhängern das Bewußtsein der historischen Sendung
der weltumfassenden Aufgabe, ohne die die proletarische Be
wegung kein Daseinsrecht hat, wachzuhalten und in immer
neuen Massen zu wecken? Die Arbeiterbewegung in den
mittel-west- und nordeuropäischen Demokratien ist durch den
Wegfall der Schranken reaktionärer Verfassungen in den
einen, und das Anwachsen der Bewegung in den andern im
stande, die Politik ihrer Länder entscheidend zu beeinflussen.
Wird es gelingen, die nach Erlösung aus Arbeitszwang und
Existenzminimum hungernden Massen zur vorerst allein mög
lichen vorbereitenden Lösung von Teilfragen zu gewinnen,
die höchstens Einschränkung, aber keine wesentliche Aende-
rung ihrer monotonen, anstrengenden Arbeit, und nicht den
Glanz der Reichen in ihre Lebensführung bringt? Wird der
Wille zur Macht, der Drang nach gestaltender Arbeit, nach
Formung des gesellschaftlichen Lebens in den Arbeitern so
stark sein, daß sie ohne die baldige große Erlösung vor Augen
bereit sind, ihre Regierung zu halten, ihre Gemeindevertretung
zu stützen? Das Problem der Sozialdemokratie ist das Pro
blem des modernen Industriestaates überhaupt: nicht aus den
satten Bürgern, die ihr Eigentum schützen wollen, sondern
aus den zukunftshungrigen Massen Staatsbewußtsein und
Machtwillen zu politischen Taten zu ziehen.
Die Lösung dieses Problems erheischt Führer mit un
widerstehlichem politischen Willen, die durch eine tiefinnere
Verbundenheit mit der Arbeiterbewegung die Arbeiter mitzu
reißen imstande sind. Die deutsche Sozialdemokratie hat in