139
würde es mir übelnehmen, wenn ich nicht auch ihm ein paar
freundliche Worte widmen würde. Es ist eine merkwürdige
Wandlung mit unserer Politik vorgegangen: noch vor ganz
kurzer Zeit mußten wir uns dagegen wenden, daß die lei
tenden Männer der Regierung, die hohen und die aller
höchsten, zu viel und zu gut geredet haben; heute ist die
Situation umgekehrt: heute beschweren wir uns darüber, daß
wir eine nichtssagende Regierung haben, die nur durch reak
tionäre Taten zu uns spricht. Diese Wendung hat etwas
Komisches; sie hat aber zugleich einen sehr ernsten Unter
grund. ln unserer Reichsverfassung ist zwar die Verantwort
lichkeit des Reichskanzlers festgelegt; aber unsere Reichsver
fassung ist in vielen Dingen ja ein Halbfabrikat: es ist nicht
gesagt, wie die Verantwortung geltend gemacht werden soll.
In der Praxis besteht die Verantwortung des einzigen Reichs
ministers, den wir haben, darin, daß er uns hier Rede und
Antwort steht über seine Taten, Auskunft gibt über seine
Absichten. Es ist also im wesentlichen eine moralisch-politi
sche Art seiner Verantwortlichkeit.
Nun hat sich aber der Herr Reichskanzler darauf be
schränkt, unbequemen, aber ganz wichtigen Anfragen einfach
auszuweichen; er hat geschwiegen. Auf dem Gebiet der aus
wärtigen Politik wollen wir ihm das nicht übelnehmen, dort
billigen wir ihm mildernde Umstände zu; wenn er sich da
noch als Lehrling fühlt, so wollen wir ihn in dieser Selbst
einschätzung nicht hindern. Aber er hätte vielleicht besser
getan, dann die Behandlung der ganzen auswärtigen Politik
dem Herrn Staatssekretär v. Schoen zu überlassen; er hätte
besser daran getan, uns nicht diese Selbstverständlichkeiten
zu erzählen, die für alle Zeiten und Völker passen. Die
Grundsätze, die er vorgetragen hat über friedliche Gesinnung
und Stetigkeit, sind natürlich gut und schön, und werden von
jedem geteilt; aber darum dreht es sich nicht. Börne hat ein
mal gesagt, so wie die geizigen Leute Schätze an häufen,
aber das Geld nicht ausgeben, so häufen die reaktionären Re
gierungen gute Grundsätze an, ohne sie anzuwenden; und
wenn mein Freund Scheidemann gesagt hat, er möchte, daß
der Herr Reichskanzler über die auswärtige Politik etwas
Besonderes sagt, so hat er damit nicht gemeint, daß wir
Sensationen erwarten. Er hat gewünscht und gehofft, daß
uns über wichtige Fragen der auswärtigen Politik des Reichs
bestimmte Erklärungen abgegeben würden. Ich will nur