Full text: Aufsätze, Reden und Briefe

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der seit Bülows Abschied die Reichsgeschäfte zu führen sucht, 
dünkt sich unabhängig von der „öffentlichen Meinung“. 
Platos stolzer Traum, aus den Herrschern Denker oder aus 
den Denkern Herrscher zu bilden, ward hier zum karikierten 
Ereignis. Er beruft sich schonungslos auf Kant und Fichte 
und glaubt — hoch über den Parteien — auf den Gletschern 
der reinen Idee sich zu bewegen, während doch seine Taten 
wunderbar zugeschnitten sind auf den engen Horizont und 
die gut berechneten Marktinteressen des Hof- und Grund 
adels. In Wahrheit 'horcht und harrt er ängstlich auf einen 
Umschlag des politischen Wetters. Wenn der wilde Steuer- 
sturm sich legen und ein weicher Wind rechtswärts wehen 
würde, bekäme das Land sehr rasche Gelegenheit, einen neuen 
Reichstag zu wählen. Und Bethmann wagt sich sogar an die 
von seinem Vorgänger meisterhaft geübte Kunst, dem Glück 
etwas nachzuhelfen. Aus einer gleichgültigen Schlägerei 
zwischen Polizisten und Streikenden schufen offiziöse Dichter 
eine blutige Revolutionslegende, die staatserhaltende Presse 
und Justiz waren der Resonanzboden für den Angstruf der 
bedrohten Ordnungsleute. Die zähneklappernde Furcht des 
Normalspießers vor den Ansprüchen der Arbeiter ist ein 
Faktor, der leider seit sechzig Jahren in jede politische Rech 
nung eingestellt werden muß. Aber diesmal klappte es nicht 
— die Mache war zu plump und dilettantisch und zerrann 
im Lichte der öffentlichen Gerichtsverhandlung. Der Kanzler 
hatte in die Lärmtrompete gestoßen und „Sammeln“ geblasen 
für die Angstmeier aller Farben — aber er ist allein ge 
blieben. Die kindlich-einfache Parole wurde noch vergrößert 
durch den Abgeordneten von Oldenburg, den Träger des 
größten preußischen Mundwerks. Dieser gefeierte Zirkus- 
Busch-Redner spielt offen mit dem Plane eines Staatsstreiches. 
Wie so vielen seiner schwarz-weißen Standesgenossen ist 
ihm der Kampf gegen die Sozialdemokratie eine wesentlich 
militärische Frage. Allein der Ehrendoktor der Philosophie, 
der uns regiert, wird dem kühnen Ritter kaum zu folgen 
wagen. Er wird wohl wissen; daß Gedanken nicht durch Ge 
walt, sondern nur durch bessere, stärkere Gedanken über 
wunden werden. Zweifelt er aber noch, dann mag er sich 
von einem seiner Leibgardeprofessoren ein Buch schreiben 
lassen über die unsterblichen Verdienste der Justiz und Polizei 
und um die Entwicklung der Arbeiterbewegung. Das Werk 
müßte gründlich mit dem Vormärz beginnen und erzählen,
	        
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