214
älter ist, als das Recht der Könige. Die Jahre 1848 und 1866
können nicht weggelöscht werden, die Revolutionen von unten
und von oben. Niemand, außer dem Träger der Krone, glaubt
mehr an das Gottesgnadentum. Es ist kein Zufall, daß er
mit Vorliebe hinter den Mauern von Klöstern und Kasernen
seine Lehre vorträgt. An den Stätten geistlicher oder mili
tärischer Zucht erhält sich die Denkart voriger Generationen
noch eine kurze Zeit. Aber aufzuhalten sind die modernen
Ideen nicht; werden auch die Flügeltüren vor ihnen ge
schlossen und verwehrt, sie dringen wie die Luft durchspalten
und Ritzen. Der Kaiser kämpft wider sie einen hoffnungs
losen Kampf. Er kann seinen Rekruten die Pflicht blinden
Gehorsams einsehärfen. Aber er irrt, wenn er einen Konflikt
zwischen Gewissen und Disziplin für unmöglich erklärt. In
Serbien, in der Türkei, in Griechenland, in Portugal waren es
Soldaten, die ihre Kriegsherren vom Throne stießen. Das
Heer der allgemeinen Wehrpflicht wird bereit sein, das Reich
zu verteidigen. Würde aber von irgendeiner Seite verlangt,
„auf Vater und Mutter“ zu schießen, SO' wären gefährliche
Gewissenskonflikte gegeben.
Wer zweifelt, wie die Zukunft entscheiden wird? Auf
der einen Seite der Kaiser, schützend umgeben von Mönchen
und Rittern, auf der anderen Seite Millionen Männer und
Frauen und Kinder, unsichtbar geführt von den freien Geistern,
von Fichte und Darwin und Marx und von allen jenen
Großen, die wirklich von Gottesgnaden waren.
„Der Sonnenaufgang läßt sich nicht verhängen
Mit Purpurmänteln oder dunkeln Kutten.“
An Leonie Meyerhof-Hildeck
Liebe Freundin! Berlin, 22 . Mai 1911
Es war nicht Vernunft, die mich vom Bahnhof fernhielt,
sondern eine dräuende namentliche Abstimmung. Ich wäre
gegen meine Absage gestern nach Hildesheim gefahren, wenn
ich hier nicht viel Arbeit hätte: wir schmieden die elsässische
Verfassung, — gegen die Konservativen. Für die Entwicklung
unserer Partei zu einer politischen Macht ist der Vorgang
von entscheidender Bedeutung. Noch zwei Tage dauert es,
bis die Würfel fallen. Halten Sie mir den Daumen.
Ihr herzlich grüßender
Ludwig' Frank