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Leute zu untersuchen und zu heilen. Sie in Ihrem Heimatidyll
zu stören, hatte ich leider keine Zeit. Ich mußte am Montag
zu einer wichtigen Sitzung hier sein. Vorgestern war ich
in Nonnenweier bei meinen Eltern, — mein Vater wurde an
diesem Tage 70 Jahre alt. Mein Besuch war eine Ueber-
raschung, sie glaubten mich noch in Berlin. Sie sind beide
von ungewöhnlicher körperlicher und geistiger Frische. —
In Berlin haben wir nicht viel voneinander gehabt. Aber Sie
dürfen deshalb nicht Ihre liebenswürdigen Verwandten an-
klagen. Die Ursache lag in mir. Ich war so besessen vom
der elsässischen Aufgabe, daß ich nichts anderes mehr sah
und dachte. Ich war sehr glücklich, als das Schiff im Hafen
war. So erklärt sich Ihnen vielleicht auch, daß ich Ihnen
nicht so viel Zeit widmete, wie ich an jedem andern Sessions
abschnitt für Sie freigemacht hätte.
Ich hoffe, Ihre Studien lohnen sich. Anseima Heines Rat,
sich auf eine große künstlerische Aufgabe zu konzentrieren
und das Kleine liegen zu lassen, scheint mir gut zu sei,m
Aber Dichter müssen ja ihrem Gott folgen!
Mit herzlichen Wünschen und Grüßen!
Ihr
Ludwig Frank
Auswärtige Politik
Im Reichstag
11. November 1911
Als vor zwei Tagen der Herr Abg. v. Heydebrand seine
Wahlrede hielt, mußte ich an ein Erlebnis denken. Bei den
vorletzten englischen Wahlen hatte ich Gelegenheit, in dem
Londoner Vorort Packham einer Rede des vielgenannten Mi
nisters Lloyd George zuzuhören. Er wendete sich mit großer
Heftigkeit gegen den konservativen Parteiführer Balfour,
der kurz vorher gegen Deutschland gehetzt hatte. Es sei
eine Gewissenlosigkeit, wenn der Führer einer großen Partei
in derartiger Weise gegen eine andere Nation die Leiden
schaften zu erregen wage; der Führer einer großen Partei
disqualifiziere sich durch ein solches Benehmen, er mache
sich unmöglich als Führer einer Partei, die zur Regierung
gestern in nahen Beziehungen stand oder morgen wieder
stehen wolle. Ich habe damals mit einem gewissen Neid dieser
Rede zugehört und mich gefragt: wann wird in Deutsch-