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haben keine Verpflichtung, wegen des Sandschaks Novibasar
oder eines Stücks von Albanien blutige Opfer zu bringen.
Tut das aber Deutschland, und verzichtet Oesterreich auf
Gebietserwerb, so hat Rußland keinen Vorwand mehr, ein
zugreifen, und Frankreich und England müssen von Ruß
land die Zusage verlangen, daß es dann neutral bleibt. Die
Aussicht auf ein solches Eingreifen Frankreichs ist wohl be
gründet. Das Erfreulichste in dieser bösen Zeit ist die ruhige
und besonnene Haltung Frankreichs. Selbst in den chauvi
nistischen Blättern finden wir kein beleidigendes Wort gegen
Deutschland. Das ist eine Tatsache, die uns für die Zukunft
große Dinge hoffen läßt. Aber manche ganz wohlmeinende
Leute hört man sagen: „Der Krieg mit Rußland muß ja
doch einmal kommen, also jetzt besser als später!“ Das ist
eine ganz törichte Ansicht! Der Krieg mit Rußland muß
nicht kommen! Gelingt es uns jetzt, den Frieden zu erhalten,
so ist er auf Jahrzehnte hinaus gesichert, und wir kommen
in den nächsten Jahren zu einer Verständigung zwischen
Frankreich und Deutschland, nach der ja beide Völker ge-<
radezu lechzen. Leben wir dann auch mit England im guten
Einvernehmen, so sind diese drei westeuropäischen Mächte
stark genug, gegen den Zarismus den Weltfrieden dauernd
zu sichern. Selbst von Arbeitern kann man hören, Rußland
sei ein barbarischer Staat, der internationale Störenfried, der
eine Niederlage verdiene! Aber diese verführerische Ansicht
ist irrig. Wir dürfen nicht Millionen unschuldiger Menschen
büßen lassen für die Verbrechen ihrer Regierung. Wir hegen
die bestimmte Ueberzeugung, daß die russischen Proletarier
mit dem Zarismus auch ohne den Krieg fertig werden; die
letzten Tage haben uns in dieser Gewißheit bestärkt. Wenn
es aber nun doch zu dem Weltbrand kommen wird: Ist
Deutschland für den Krieg gerüstet? Heer, Waffen und
Kriegsschatz sind vorhanden. Aber ein sehr wichtiger Teil
der Rüstung ist vernachlässigt, — ich möchte es die psycholo
gische Rüstung nennen. Die Regierung hat versäumt, durch
eine vernünftige, freiheitliche Politik im Innern die Klassen
des Volkes zu einer nationalen Einigkeit zusammenzu
schweißen. Man hat den Sozialdemokraten, also dem dritten
Teil der Nation, die Gleichberechtigung versagt. Es sei nur
erinnert an die Verurteilung der Leute, die das Charlotten
burger Denkmal bepinselt haben und zu je li/o Jahren Ge
fängnis verurteilt wurden, während Studenten, die oft Schlim-