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Paragrana 14 (2005) 1
tion des Menschen verlorene Handlungsfähigkeit auf der Höhe der
Kultur wiederherstellen.
2. Während ein solcher Gedankengang in vielen Hinsichten den commen
sense in der anthropologischen Sprachreflexion darstellt, gewinnen Nietz
sches Überlegungen ein eigensinniges Profil durch die Behauptung, die
sprachliche Handlungsfähigkeit lasse sich nur um den Preis der Abspal
tung individueller Antriebe herstellen. Durch symbolische Abwehrhand
lungen soll handlungsorientierendes Selbstverständnis gegenüber
bedrohlichen Willensdispositionen gewonnen werden können.
Bringt man den sozialen Charakter der Sprache in einem solchen Argu
ment zur Geltung, dann läßt sich die Selbstbildung als ein Vorgang
begreifen, in dessen Verlauf das Individuum in den „Bann der Gesell
schaft“ eingeführt wird. Die Desymbolisierung des Individuellen ist
Nietzsches Überlegungen zufolge der Preis, der für den Eintritt in die
überlebenssichernden Ordnungen des Sozialen entrichtet werden muß.
3. Dem anthropologischen Befund einer „Vielheit und Disgregation der
Antriebe“ kommen in Nietzsches Werk zeitdiagnostische Überlegungen
entgegen: Sie reflektieren Phänomene der Desintegration, die sich daraus
ergeben, daß die symbolischen Mittel der Kultur die Einheit des Selbst
nicht mehr zu garantieren vermögen. Nietzsches Überlegungen werden
angetrieben von der „nihilistische“ Krise der Kultur, die die vermeintlich
unproblematische Fähigkeit verloren zu haben scheint, individuelle An
triebe zu sozialen Handlungsentwürfen zu bündeln.
Die zeitdiagnostische Instrumentierung des Themas der „Disgregation“
weist darauf hin, daß Nietzsche seiner scheinbar transkulturell und
geschichtlich invarianten anthropologischen Argumentationsskizze an
verschiedenen Stellen eine historische Wendung gibt. Die sprachliche
Abwehr bedrohlicher Willensdispositionen wird einerseits als konstituti
ves Moment der Hominisation bedacht; andererseits soll die Abwehr eine
historisch situierbare Zivilisationsstrategie sein, welche soziale Machtan
sprüche gegenüber den vergesellschafteten Subjekten durchsetzt, indem
sie sie intrapsychisch verlängert.
(1)
Inwiefern lassen sich nun eine Reihe von Überlegungen Nietzsches sinnvoller
weise unter den Begriff ‘anthropologisch’ bringen, also mit einem Ausdruck bele