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Der Tv5"7chließt als Konkurs unseres Lebens unser Soll und Haben
endgültig ab. Was darüber ist, das ist für die Gläubigen als Gläubiger
des Himmels Lonto äubioso (zweifelhaft), für die Freidenker als Schuldner
der Erde aber conto non cludioso (nicht zweifelhaft). Welche Zensur er
erhält, das kann auch der Allersrömmste nicht voraussagen, da er seine
Sünden leicht unterschätzt. Für den freien Menschen gibt es keine Aus
schüttung einer überweltlichen Glücksmasse, sondern unausgesetzte und vor
berechtigte praktische Lebensgüte. So verschiebt er keine Liebestat über
die Wolken hinaus, und er hilft mit warmer Hand, nicht mit kalter
Hand — nach seinem Tode. Ihm wird das memento mori, das Denke
ans Sterben, zu einem memento vivere, zu einem machtvollen Ak
kord des Lebens. Nicht Todesfurcht, nicht Angst vor Lohn und
Strafe, sondern Lebensfurcht, Bangen vor Lieblosigkeit und Tatenarmut
gilt ihm als oberstes Gebot.
*
Nur d e r soll an Gräbern gepriesen werden, der beiden Antlitzen des
Schicksals gegenüber sich bewährte. Man soll im Leben jeden Menschen
unter dem Gesichtswinkel beurteilen: Du Lcidbeladener, wenn der Sonnen
schein des Glückes ins Fenster strahlt, wirst du das alte, tiefe Mitgefühl
behalten? Und du, Höhenwanderer, dem die Glückssonne unterging, wirst
du Würde und Festigkeit bewahren auch in Wind und Wettern?
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Wie die untergehende Sonne am Horizonte, so hinterlassen auch edle
Menschen ein freundliches Abendrot der Erinnerung, von kürzerer oder
längerer Dauer. Auch Lebensbäumen kann man die Menschen vergleichen
mit größerem oder kleinerem Schatten. Mancher bringt noch Labung für die
spätesten Geschlechter und bleibt wirksam und beredt in Taten und Gedanken.
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Im Leben blieb so viel Leeres, Unerfülltes, Unabgeschlossenes zurück:
darum begleiten die Menschen ihre Lieben mit ihren Wünschen zur Voll
endung in einer wolkenloseren Ferne. Wir wollen doch lieber die Summe
der Leistungen und nicht die vergeblichen Hoffnungen als Sie
geszeichen an den Gräbern auspflanzen. Ihre Wirksamkeit zu erhöhen, ihr
Liebeswerk zu vertiefen und ihre Liebsten zu nmtreuen, das ist über
Schmerz und Tränen, das ist wahrhaft unsterblich. Solche Treue ist die
würdigste Trauer.
Die Größe des Gefolges entspricht nicht immer der Größe des
Schmerzes. Einige kommen ans Neugier, einige, weil das Begießen ihnen
wichtiger ist als das Versenken, andere erscheinen nur wegen der Ueber-
lebcnden, und andere kommen, um sich selber zu zeigen. Denn zur Eitelkeit
sind die Menschen selten lässiger als zu einem ungesehene», stillen Schmerze.
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Auch die Heftigkeit ist nicht der Gradmesser für die Tiefe der Trauer.
Ost begegnete ich Menschen, die sich am liebsten in die Grube nachstürzen
wollten, sehr bald heiter und getröstet, während andere, die auch an Grä
bern die würdige Aesthetik einer stillen Ergriffenheit zeigten, ihren Schmerz
nie wieder verwanden. — Oft sind Tränen die ehrliche Entspannung eines
großen Leides, aber oft liegt auch in lauten Klagen ein ernster Selbstvor
wurf und redliche Rene, und zuweilen ist es bloße Ansteckung. Drum lernt
an Gräbern die Lehre für das Leben: Taten sind besser als
Tränen.