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Urtheil zu lenken. Zu lenken sage ich, nicht zu sprechen,
denn selbst die Gesetze haben keine andre Absicht, keine
andre Wirkung. Da ist ein Gleichniß, das zu meinem
Vorhaben unvergleichlich dient, weil cS die Wahrheit zugleich
aufklärt und festsetzt, wovon ich meine werthesten Leser
aus bestem Herzen recht überzeugen möchte.
In dem bürgerlichen und politischen Wesen sind die
Sachen bey allen Nationen also eingerichtet. Dian hat
geschriebene Gesetze, eingeführte Gewohnheiten, und noch
darüber einen Richter. Dieser spricht, jene sprechen nicht;
aber sic sind die Richtschnur, wornach der Ausspruch ge
richtet wird. Wie, wenn jemand den streitenden Parteyen
zuriefe: weg mit dem Richter! da ist das Gesetzbuch, schlich
tet darnach selbst eure Handel? Sie suchen, sie lesen, sie
finden, was? — Gesetze, die noch einer fernern Erklärung
bedürfen; die von einem witzigen Kopfe auf beyde Seiten
können gedreht werden; die sich unter einander zu wider
sprechen scheinen; die sich vom Allgemeinen auf's Besondre
ohne neue Schwierigkeit nicht anwenden lassen; die den ge
genwärtigen Fall von weitem nicht berühren. Unterdessen
doch, weil ein jeder Recht haben will, bringt ein jeder für
sich etwas auf; und so wird der Streit nur immer hitziger,
und in neue Verwirrungen verwickelt. Ganz natürlich,
weil niemand da ist, der das Dunkle erklärt, den gewissen
Sinn bestimmt, den anscheinenden Widerspruch aufhebt,
die richtige Anwendung macht, den Mangel der Schrift
mit der ungeschriebenen Gewohnheit ersetzt, und endlich,
mit genügsamem Ansehen ausgerüstet, das Endurtheil fällt.
Mit den Religionshändeln hat cs eben diese Vcwand-
niß. Die Bibel vertritt die Stelle des Codex, und die
mündliche Ueberlieferung jene der eingeführten Gewohnheit.
Gleichwie nun weder der Codex noch die Gewohnheit ver
mögen, einen bürgerlichen Prozeß zu Ende zu bringen, son
dern die Endigung desselben dem ordentlichen Ausspruche
des rechtmäßigen Richters überlassen; also ist auch nächst
der Bibel und den mündlichen Ueberlieferungen ein Richter
schlechterdings nothwendig, um die Zweifel zu tilgen, die
in Ansehung der Glaubenöwahrheiten von Zeit zu Zeit
erregt werden.