Full text: Philosophie der Religion , 6 (06)

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Urtheil zu lenken. Zu lenken sage ich, nicht zu sprechen, 
denn selbst die Gesetze haben keine andre Absicht, keine 
andre Wirkung. Da ist ein Gleichniß, das zu meinem 
Vorhaben unvergleichlich dient, weil cS die Wahrheit zugleich 
aufklärt und festsetzt, wovon ich meine werthesten Leser 
aus bestem Herzen recht überzeugen möchte. 
In dem bürgerlichen und politischen Wesen sind die 
Sachen bey allen Nationen also eingerichtet. Dian hat 
geschriebene Gesetze, eingeführte Gewohnheiten, und noch 
darüber einen Richter. Dieser spricht, jene sprechen nicht; 
aber sic sind die Richtschnur, wornach der Ausspruch ge 
richtet wird. Wie, wenn jemand den streitenden Parteyen 
zuriefe: weg mit dem Richter! da ist das Gesetzbuch, schlich 
tet darnach selbst eure Handel? Sie suchen, sie lesen, sie 
finden, was? — Gesetze, die noch einer fernern Erklärung 
bedürfen; die von einem witzigen Kopfe auf beyde Seiten 
können gedreht werden; die sich unter einander zu wider 
sprechen scheinen; die sich vom Allgemeinen auf's Besondre 
ohne neue Schwierigkeit nicht anwenden lassen; die den ge 
genwärtigen Fall von weitem nicht berühren. Unterdessen 
doch, weil ein jeder Recht haben will, bringt ein jeder für 
sich etwas auf; und so wird der Streit nur immer hitziger, 
und in neue Verwirrungen verwickelt. Ganz natürlich, 
weil niemand da ist, der das Dunkle erklärt, den gewissen 
Sinn bestimmt, den anscheinenden Widerspruch aufhebt, 
die richtige Anwendung macht, den Mangel der Schrift 
mit der ungeschriebenen Gewohnheit ersetzt, und endlich, 
mit genügsamem Ansehen ausgerüstet, das Endurtheil fällt. 
Mit den Religionshändeln hat cs eben diese Vcwand- 
niß. Die Bibel vertritt die Stelle des Codex, und die 
mündliche Ueberlieferung jene der eingeführten Gewohnheit. 
Gleichwie nun weder der Codex noch die Gewohnheit ver 
mögen, einen bürgerlichen Prozeß zu Ende zu bringen, son 
dern die Endigung desselben dem ordentlichen Ausspruche 
des rechtmäßigen Richters überlassen; also ist auch nächst 
der Bibel und den mündlichen Ueberlieferungen ein Richter 
schlechterdings nothwendig, um die Zweifel zu tilgen, die 
in Ansehung der Glaubenöwahrheiten von Zeit zu Zeit 
erregt werden.
	        
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