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damit was zu einer Zeit, in einem Orte, von einem Men,
schen geglaubt wird, auch zu allen Zeiten, in allen Orren,
von allen Menschen geglaubt werde; eine Regel, die Anse
hen und Macht habe, die Unwissenheit zu erleuchten, die
Irrthümer zu tilgen, die Zweifel zu heben, die Streitig
keiten zu entscheiden, die Gemüther zu unterwerfen, zu ver
einig n, und vor aller Gefahr zu irren, sicher zu stellen,
dam ein jeder mit dem Apostel sagen könne: „Ich weiß,
wem ich geglaubt habe *),"
Darüber streiten die verschiedenen Religionsparteyen mit
einander nicht; ja sie stimmen amch darin gern überein,
daß sie das Wort Gottes für die jetzt beschriebene Glau
bensregel annehmen. Billig.' denn der G aube, von dem
wir handeln, ist ein göttlicher Glaube; wie soll er aber
göttlich seyn, wenn kein göttliches Ansehen, kein göttliches
Zeugniß, kein göttliches Wort vorausgeht? Es rede mir
nur, entweder ein Engel vom Himmel, oder ein Mensch
von der Erde, so lange keiner von beyden von Gott gesen
det ist, und'die Vollmacht seiner S ndung aufweist, mag
ich ihnen zwar glauben; aber nimmer wird sich mein Glau
be aus der Klasse der bloßmcnschlichen Akte herausheben;
nimmer wird er — aus Mangel des göttlichen Beweggrun
des — göttlich seyn.
In Rücksicht auf eine so allgemeine Uebereinstimmung
in der Grundregel, welche die vollkommenste Gleicbhcit des
Glaubens, und die süßeste Einigkeit der Gemüther stiften
sollte, muß UNS nothwendig die entgegengesetzte Wirkung
sehr befremden; die so große Verschiedenheit des Glaubens,
und die so bittere Trennung der Gemüther, die wir unter
den christlichen Gemeinen antreffen. Woher so eine Unord
nung? Liegt der Fehler am göttlichen Worte, oder an des
sen Anwendung? Niemand getrauet sich, das erste zu be
haupten, also das zweyte.
Ja freylich in der Anwendung wird auf die mannich-
faltigsten Arten gefehlt. Bald v rstümm lt man es, bald
mischt man Menschenwort darin; bald verdrehet man es;
•) -.Tim. i. ir.