Full text: Philosophie der Religion , 6 (06)

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bald dichtet man ihm einen «nächten Verstand an; 
Und so lange dieß geschieht, kann di.' Glaubenöregel zu 
nichts nützen; sie wird vielmehr eine Quelle unendlicher 
Streitigkeiten. Es ist noch nicht Zeit, alle diese Fehler 
einzelnwejse zu durchgehen, aber einen, und zwar gleich den 
ersten, wollen wir vor die Hand nehmen. 
Man verstümmelt offenbar das Wort Gotteö, wenn man 
es wagt, nichts dafür anzunehmen, als was geschrieben ist. 
Woher wissen sie cö, diese Herren, daß der Urheber der 
christlichen Religion alles habe schriftlich aufzeichnen laßen, 
was er mündlich gelehrt hat? ihre ursprüngliche Einrich 
tung erfoderl eö gewiß nicht. 
Di? Schrift mag vielleicht mit zu den charakteristischen 
Eigenschaften des moralischen Gesetzes gehören, weil es nicht 
eher gegeben, als geschrieben wurde, und deswegen die Be 
nennung des Geschriebenen erhielt; aber in dem evangelischen 
hat die Sache eine ganz andere Bewandniß. Die Prophe 
ten, wann sie in ihren himmlischen Entzückungen in die 
Zukunft hineinsehen, und von dem göttlichen Christen 
thums weissagen, gedenken nie einer Schrift oder eines 
Schriftstellers, sie setzen im Gegentheile immer der alten 
Schrift die lebendige Stimme, und den redenden Mes 
sias dem schreibenden Moses entgegen. Der Herr — 
sagen sie *) — wird dem Erlöser die Worte in den Mund 
geben; und diese Worte werden von Mund zu Mund den 
nachfolgenden Geschlechtern unversehrt überliefert werden. 
Ja, Gott selbst, da er unö durch den Moseö einen neuen 
Gesetzgeber und Propheten ankündigt, verspricht zugleich, 
daß er seine Worte in desselben Mund legen wolle. Und 
( wozu? Damit er sie niederschreibe, oder niederschreiben lasse? 
Nein, damit er sie rede **). Jeremias zwar thut 
*) Da der Erlöser - - - kämmen wird, spricht der Herr - - - meine 
Worte, die ich in deine» Mund gelegt habe, werden weder von deinem 
Munde, noch von den. Munde deiner Kinder, noch von dem Munde 
deiner Endel abweichen. Isa. 20. 21. 
**) Ich will ihrtfii aus der Mitte ihrer Brüder einen Propheten erwecken, 
wel er dir soll gleich sey»; und wll meine Worte in seinen Mund 
le>», und ■ wird alles zu ihnen reden, was ich ihm befehlen werde. 
Deut. i%, 1$.
	        
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