Lillers, der drüben gefallen war. Man hakte ihnen aus
Mitleid - trotz häufiger Ouartiersnot bei größeren Um
gruppierungen an nuferer Front - niemals Einquartierung
ins Haus gelegt. Sie waren arm und stolz und unglücklich.
Es zwang mich, auch folche Kriegsopfer in meinem Liller
Roman zu fchildern.
Eine alte Liberia sprach ich einmal, die inir mit Tränen
in den Augen von einem Augusttag igi/f erzählte. Damals
waren die Liller Regimenter mit blnmengefchniückten Ge
wehren am Sommergarken vorbeigezogen, in dem das
Desroufseaux-Denkmal mit der Gruppe Mutter und Kind
steht, dem Marmorbildwerk von Deplechin, und die Sol
daten fangen alle das Liedchen, das den Dichter Des-
rouffeaux in Franzöfifch-Flandern unsterblich gemacht hat:
„Dorn, min p’tit quinquin!“ Es war ein rührender Ab-
fchiedsgruß gewesen, den die Abmarschierenden nicht allein
dem Dichter und dem Bildhauer mit diesem Kinderschlaf-
liedchen bieten wollten, sondern er hatte wohl vor allem
der eigenen Mutter gegolten. Die Mutter, die mir dies
berichtete, hat droben von einem fremden Dachfenster aus
dem Abzug der Garnison beigewohnt. Sie hat immerzu
mit ihrem zerweinten Taschentuch gewinkt. Aber erkannt
hat sie ihren einzigen Jungen unter den Taufenden nicht,
lind zu sehen bekam sie ihn nun nie wieder. Seit einem
halben Jahr wußte sie, daß er gefallen war. „Bors, min
p’tit quinquin!“ Es reut mich nicht, daß ich’s versucht habe,
diesen Liller Roman zu schreiben, der auch die „andere
Seite" betrachtete, und zwar mit den Augen eines Men
schen, der eben gerecht sein wollte. Ich glaubte, dies dem
Umstand schuldig zu sein, daß ich wohl der einzige Roman
schriftsteller war, der die Hauptzeit der für die Liller so
schweren Prüfung in der „Stadt in Ketten" miterlebt hat.
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