Full text: Gottgesandte Wechselwinde

staunend Mund und Augen aus. Aus dem eingestäubten 
Fundus des alten Jnterimstheaters wurden Dekorationen 
zusammengestellt, und eines Morgens traf die Theater 
truppe auf dem Bahnhof Lille ein. Agnes Sorma erschien 
in der ihr zustehenden Tracht einer Hilfsfchwester des Roten 
Kreuzes: sie hatte gleich bei Kriegsausbruch ihren Aus- 
bildungskurfus durchgemacht. Von den Ruinenbildern, die 
sie auf der Fahrt gesehen, war sie noch stark beeindruckt. 
So bedrohlich laut und nahe hakten sie sich auch alle den 
Lärm der Geschütze, der in Lille die Fenster klirren machte, 
nicht vorgestellt. Aber Angst empfand niemand von ihnen. 
Die Erwartung der eigenartigen Aufführung war dafür 
viel zu groß. Eine ganz besondere Abart des Lampensiebers 
herrschte vor. Als sie aus den kleinen Garderoben heraus 
traten, fertig geschminkt und kostümiert, konnten sie durch 
winzige Seitenfenster des Holzbaues einen Blick auf ihr 
Publikum werfen. Ein Truppenteil, der gerade von der 
Front zur Ruhe in Lille eintraf, setzte aus dem Platz neben 
dem Theater die Gewehre zusammen, legte Helm und Tor 
nister ab und trat bestaubt und verschwitzt auf den schlür 
fenden und kratzenden Nagelstieseln in den Zuschauerraum 
ein. 
Es war ein sonnenheller Nachmittag. Uber dem Ruinen 
viertel der Innenstadt kreisten zwei deutsche Flieger. Sie 
übten sich in Wendungen und Purzelbäumen, die für die 
Laien damals noch stärkere Spannung besaßen, als die 
Schaufpielergefellschaft sie dem klassischen Stück beimaß. 
Aber „Minna von Barnhelm" fand sowohl bei der Pre 
miere des Jnterimstheaters wie bei den Wiederholungen 
einen geradezu stürmischen Erfolg. Die vom Marsch 
müden, aber rasch wiederauflebenden Zuschauer gingen mit 
jedem Satze mit. Es zeigte sich, was für ein durchschlagen-
	        
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