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Ich entsinne mich noch ganz genau meines Großvaters,
der als Achtzigjähriger starb, als ich AbcschüHe wurde.
Sein Geburtsjahr siel in die Sturmzcit der Pariser Revo
lution; den Rest des achtzehnten Jahrhunderts hatte er also
nur als Knabe miterlebt; aber das Bild der Rokoko- und
Barockzeit repräsentierten für ihn seine Eltern und Groß
eltern. „Als ich so ein kleines Bübchen war wie du, Gott
friede!, da trugen wir noch keine Röhrenstiefel, und mein
Bater besaß auch keine!" hatte Großvaters Großvater, der
um 1730 zur Welt gekommen war, zu ihm gesagt. Und
nicht nur aus der Trachtenkunde und Kleiderordnung des
achtzehnten Jahrhunderts waren ihm so von lebenden
Augenzeugen noch allerlei kleine Tatsachen oder Denk
würdigkeiten vermittelt worden, sondern auch aus dem
Straßenleben, dem Handwerksbetrieb, de» Wohnverhält
nissen, von Essen und Trinken, Schulbesuch, Musiziere»,
Münzwerten, Post, Anreden, Polizei. „Komische alte
Zeiten!" dachten wir Knirpse und hatten - bei allem Re
spekt - wohl doch ein bißchen Mitleid mit Vaters Vater
oder Mutters Mutter und deren Eltern. Und wenn ich mir
nun vorstelle, wie ich als Fünfundsicbzigjähriger heute auch
meinen eigenen Enkelkindern so gelegentliche Aufschlüsse
über kulturgeschichtliche Merkwürdigkeiten aus meiner
Kinderzeit gegeben haben mag, dann kann ich mir ja aus
rechnen, daß auch sie als uralte Leutchen iin einundzwan-
zigften Jahrhundert, wenn sie mit den Krabben ihrer Kin
der ins Plaudern geraten, wiederum eine Menge Unter
schiede kleiner Alltagserscheinungen heranziehen werden.
So reicht dann bei uns die Übermittlung persönlicher Wahr
nehmung also auch wieder durch drei Jahrhunderte, min
destens durch sechs bis sieben Generationen.
Die Tat Hitlers brachte dem deutschen Menschen in der