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zusammenbrach, soll sein Körper über und über zerstochen
gewesen sein von den Stichen der Morphiumnadel. Eine
Oual, von der wir Kinder keine Ahnung hatten, begann
für den Ärmsten. Er hatte seiner Frau ein neues Gelübde
abgelegt: das Narkotikum sich selbst abzugewöhnen, ohne
eine Anstalt auszusuchen. Oft hörten wir Vater wimmern
vor Schmerz. Er tat uns unendlich leid. Aber allmählich
gewöhnten wir uns doch daran, daß er krank war. Nur die
trübseligen Einschränkungen fochten uns Kinder immer
schwerer an: es durfte kein Klavier gespielt werden, man
durfte nicht singen, kaum lachen, und Taschengeld gab es
auch nicht mehr, weil Mutter sparen mußte.
Das waren graue Zeiten.
Doch da man jetzt aus dem Haufe konnte, ohne zu fragen oder
gefragt zu werden - alles drehte sich um Vater, der lange, lange
Zeit hindurch zwischen Leben und Tod schwebte -, so suchte
man die ungewohnte Freiheit nach Kräften wahrzunehmen.
Ich habe es in jenem Jahr zum erstenmal so recht emp
funden, daß unsere Familie fremd in der Stadt geblieben
war, die doch unsere Heimat sein sollte, und ich fühlte die
Kälte und Gleichgültigkeit so vieler Schulgenossen jetzt,
da ich auf sie angewiesen war, sehr schmerzlich. Die anderen
hatten alle ihren vertrauten Kreis. Ich war zu schüchtern,
um mich anzubieten oder einzudrängen. So siel ich schließlich
als williges Opfer denen zu, die mich haben wollten. Es waren
die räudigen Schafe der Klaffe. Baldzähltc ichfelbstzu ihnen.
Als ich der „Klaffenflock" war
§)er liebenswürdigste unter den kleinen Strolchen, mit
denen ich mich nach der Schule noch unendlich lange Zeit
herumtrieb, gehörte gewissermaßen mit „zum Bau".