Full text: Grundriß zur Vorlesung über Allgemeine Staatslehre und Politik

Richard Schmidt, Staatslehre 22, 
b) teils dagegen ist als das für die Zusammensetzung leitende 
Prinzip die Forderung aufgestellt worden, die Volksvertretung müsse 
genau die Verteilung der Bevölkerung in Geschlechtern, 
Wirtschaftsgruppen, Religionsgruppen ete. widerspiegeln, — sie 
müsse nicht nur eine Vertretung der Volksinteressen, sondern 
des Volkswillens sein. 
Auch dieser Gegensatz steht in keinem notwendigen innern 
Zusammenhang mit dem Gegensatz des konstitutionellen und des 
demokratischen Prinzips. Doch ist die letztgenannte Forderung 
mit ‚besonderm Nachdruck von den besonders für die Demokratie 
eintretenden Angehörigen der grossen untern Volksschichten (Klein- 
bürgertum, Kleinbauerntum, Arbeiterproletariat) erhoben worden. 
Der Gegensatz wird praktisch darin, dass bei der Frage nach der 
Zusammensetzung des Parlaments. von der einen Seite in erster 
Linie die politische Reife und Leistungsfähigkeit der 
Mitglieder, bes. die Bildung, — von der andern in erster Linie 
die Volkstümlichkeit, bes. die Uebereinstimmung mit den 
Stimmungen undParteirichtungen der Bevölkerungsgruppen 
gefordert wird. Im Einzelnen lässt sich nur von hier aus Stellung 
nehmen zu der Frage: 
I. welche Bedeutung die Organisation des Parlaments im Zwei- 
oder im Einkammersystem besitzt. Während das letztere auf 
sine einzige geschlossne, durch Wahlen aller wahlberechtigten 
Bürger geschaffne parlamentarische Körperschaft hinweist, verlangt 
das Zweikammersystem im Anschluss an den historisch entstandnen 
Rechtszustand Englands neben dieser zweiten oder „Volkskammer“ 
(Unterhaus, house of commons, in Preussen „Abgeordnetenhaus“, 
französisch: chambre de deputes etc.) noch eine engere Körper- 
schaft, welche getrennt von der andern tagt und beschliesst und 
insbes. zu Gesetzgebungsakten und zur Budgetgenehmigung mit 
ihr zusammenwirken muss, — die „Erste Kammer“ oder „Stände- 
kammer“ (englisch: house of peers, »Überhaus, — in Preussen 
„Herrenhaus“, — in Frankreich, Italien, Belgien: „Senat“). Historisch 
aus der mittelalterlichen Ständevertretung (s. 0.) zu erklären, wird 
sie, vom modernen Staatsrecht auf Grund des Gedankens beibe 
halten. dass eine bevorzugte Vertretung der oberen, gebildeteren
	        
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