EINLEITUNG.
1. Seit den frühesten Zeiten hat es Menschen gegeben, welche
sich nicht damit begnügten, die Natur mit ihrem reichen Inhalte
als etwas unwandelbar und seit jeher Seiendes hinzunehmen, ihre
Fertigkeiten und Kräfte auszubilden, die überlieferten religiösen
Gebräuche zu halten und die geforderten Pflichten als Bürger
und Krieger zu erfüllen, sondern alle ihre Kenntnisse, Vorstellun
gen und Überlieferungen zu einem Ganzen zusammenfafsten, von
der sinnlichen Wahrnehmung zur geistigen Erkenntnis fortzu
schreiten und so alles, was ist, nach seinen letzten Gründen zu
erforschen suchten. Dieses Streben nach Erforschung der Wahr
heit, namentlich nach dem Verhältnis der körperlichen, sichtbaren
Welt zur geistigen nannten die Griechen cpilooocpla*). Bis auf
Sokrates beschäftigten sich die meisten Philosophen mit der
Frage nach dem Entstehen der Welt und der Zusammensetzung
ihrer einzelnen Stoffe (Naturphilosophie). Sokrates und
seine grofsen Schüler, Plato imd Aristoteles, haben zunächst
als Grundlage aller begrifflichen Erkenntnis Klarheit über die
Bedingungen des Wissens, die Gesetze des Denkens (Logik) an
gestrebt und erreicht, ihre Aufmerksamkeit auf die Gesetze des
Seelenlebens (Psychologie), wenn auch nur nebenbei, hingewandt
und namentlich die Wissenschaft von den damals notwendiger
weise ganz unfruchtbaren Erörterungen über die Natur des Welt
alls zu ihrer sittlich wirksamen Aufgabe geführt, indem sie mit
dem Biistzeug der Denkgesetze die Frage aufwarfen und beant
worteten : welche Sitte und Haltung ist für die menschliche
*) Cie. off. II, 2, 5: „Rerum divinarum et humanarum causarumque, quibus
«ae res continentur, scientia.“
Cic. de officiis i-m. (K.)
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