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IHoa3nenie eBpeH. — CoBpeMeHHHKb. — Die polnischen Juden
- „Der Zeitgenosse‘, 1858, Bd. LXX, S. 197—198.
Pirogow, Nikolaj Iwanowitsch.
I. ,In diesen Tagen besuchte ich die hebriüische
Gemeindeschule [in Odessa]?) und verliess dieselbe mit
einem Gefühle, dem ich wohl oder übel Ausdruck geben
muss.
Vielleieht werden viele von den Lesern des ,Odesski
Wiestuik**") sagen: Was geht uns eine jüdische Synagogen-
schule an? Aber bin ich schuld daran, dass mich alles
Allgemeinmenschliche. interessiert, da doch sein Dasein aus
den ‚ewigen Wahrheiten der Offenbarung entspringt? . .
Der Jude hält es für seine heiligste Pflicht, seinen
Sohn, sobald er kaum stammeln kann, im Lesen zu unter-
richten; er thut dies in der festen Überzeugung, dass das
Lesenkönnen das einzige Mittel ist, um das Gesetz kennen
zu lernen.
In der Vorstellung des alttestamentarischen Menschen
fliessen Lesenkónnen und Gesetz in ein einziges unzertrenn-
liches Ganze zusammen. Bei ihm giebt es keinen Streit
und keine Zeitungspolemik darüber, ob das Lesenkönnen
für sein Volk eine. Notwendigkeit sei. Wer die Notwendig-
keit des Lesenlernens leugnet, der leugnet nach seiner Über-
zeugung das Gesetz.
Der Jude ist in unseren Augen ein Anhänger alter
Bräuche und Gewohnheiten, ein Anbeter des toten Buch-
staben, ein Formalist — alles, was ihr wollt; aber er ist
alles das — aus Überzeugung.
Und wir — wir sind Anhänger des Fortschritts, und
Sucher der Wahrheit; sobald es sich jedoch um Thaten
aus Überzeugung handelt, dann können wir im Konserva-
tismus selbst mit den Juden wetteifern.
Ich weiss — man wird mich für das, was ich eben
sagte, der Leidenschaftlichkeit, Verblendung und Ungerechtig-
*) N. I. Pirogow war damals (1858) Kurator des Odessaer Schul-
bezirks.
**) Dieser Aufsatz erschien zuerst im „Odesski Wjestnik“ von 1858.