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Urplötzlich wurden wir von diesem Geiste streng formeller
Gesetzlichkeit gepackt und jagen den Juden aus seiner
Wohnstätte heraus, nicht deshalb, weil er sich als schädlich
für die übrige Bevölkerung erwiesen, oder weil er sich nicht
gut aufgeführt hätte, sondern nur darum, weil er keine
Stiefel näht . . . Diese durch nichts motivierten Auswei-
sungen ruinieren die Unglücklichen nieht weniger, als die
wüsten Ausschreitungen des aufgehetzten Pübels.
XI. — (1882. No. 110). — Der plótzlich unternommene
Kampf gegen die Juden bietet eine in jeder Beziehung be-
merkenswerte Erscheinung. Er ist ein Beweis dafür, wie
prompt bei uns jede Intrigue wirkt und wie leicht sich
geistige Epidemien dieser Art verbreiten. Nicht das geringste
hatte sieh in der jüdischen Welt zugetragen . . . Da pfiff
jemand plötzlich und rief: Haut die Juden! und urplótzlich
tauchte die Judenfrage auf, und jedermann stürzte auf die
Juden los! Soll man sieh nun darüber wundern, dass der
Strassenpôbel auf einmal an. verschiedenen Orten und selbst
dort, wo wenige Juden leben, jüdische Häuser und Läden
zu demolieren begann, wenn selbst aufgeklärte und den-
kende Menschen, ohne sieh von der Natur der aufgetauchten
Frage Hechenschaft zu geben, sich von der Bewegung hin-
reissen lassen? . .
Darin besteht die Macht jeder politischen Intrigue, dass
sie plötzlich bei den Menschen Fragen anregt, an die sie
bisher nicht gedacht haben, und sie zwingt, nach ihrer Pfeife
zu tanzen. Man kann doch nicht allen Juden auf einmal
den Kopf abschlagen noch sie alle nach ihrem alten Ansie-
delungsgebiet verweisen. Es geht auch nicht an, diese vier
Millionen Menschen naeh den östlichen Distrikten übersiedeln
zu lassen oder sie samt und sonders nach Palüstina oder
Amerika zu befórdern. Wir kónnen noch so viel reden,
unsere Juden werden wir nicht los, darüber besteht bei ge-
nauerer Prüfung der Dinge nicht der geringste Zweifel.
Weshalb nun jetzt gerade diese Erregung, die doch zu nichts
Gutem führen kann und lediglich Volksaufstände und Aus-
schreitungen des lieben Strassenpöbels zur Folge hat, der
des Glaubens. ist, dass er den Willen des Zaren erfüllt,